Was ist Spiritualität?

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Über die Bedeutung von Spiritualität höre ich tagtäglich die unterschiedlichsten Meinungen. Die meisten davon wurden beiläufig irgendwo aufgeschnappt und nicht weiter hinterfragt.
Manche sehen in der Spiritualität die Möglichkeit, übernatürliche Kräfte und Fähigkeiten zu erwerben. Andere projizieren auf sie ihr christliches Heiligenbild und glauben, ein spiritueller Mensch müsse immer nett und freundlich sein, jedem Obdachlosen sein Geld geben und dürfe niemals nein sagen. Wieder andere erwarten von der Spiritualität die Erlösung von ihrem Leid oder die Erfüllung ihrer Wünsche und sind der Ansicht, ein spiritueller Mensch sei nicht mehr in der Lage, unangenehme Gefühle zu empfinden.
Für mich sind all diese Definitionen Begleiterscheinungen unserer Kultur und unserer unbewussten Hoffnungen und Sehnsüchte.

Spiritualität aber hat mit alledem überhaupt nichts zu tun.
Es ist das Fragen der absolut elementarsten Frage: Wer bin ich.

Wenn ich bereits erkannt habe, dass ich nicht mein Name oder meine Berufsbezeichnung bin und vielleicht sogar schon sehen kann, dass ich auch nicht meine Meinungen und nicht einmal meine Biografie bin, dämmert allmählich die Erkenntnis, dass ich absolut keine Ahnung habe, wer ich in Wirklichkeit bin.

Aber was fangen wir jetzt mit dieser Information an und wie können wir von hier weitergehen?

Indem wir versuchen herauszufinden, wer all dies hier liest und darüber nachdenkt.
Wenn du glaubst, dass du deine Gedanken und Gefühle bist, unterliegst du einer Illusion. Du hast dich noch nicht gefragt, wer all diese Gedanken wahrnimmt, wem diese Gefühle widerfahren.

Auf diese Frage kann dir niemand eine Antwort geben – du musst es ganz alleine für dich herausfinden.
Sicher gibt es eine Menge vorgefertigter Antworten und Erklärungen, doch die meisten davon sind unbrauchbar und bringen uns keinen Schritt weiter.

Die Neurowissenschaftler behaupten zu Beispiel, die einen Gedanken nehmen die anderen Gedanken wahr. Aber auch hier bleibt offen, wer den ersten Gedanken wahrnimmt, der den zweiten Gedanken wahrnimmt, und so weiter und so fort.
Es gibt immer ein Dahinter, wir stehen genau da, wo wir vor der Antwort standen.

Wenn uns keine Antwort von außen mehr zufriedenstellen kann und wir uns selber auf die Suche nach dem machen, der all das sieht und erlebt, beginnt wirkliche Spiritualität.
Dann kommen wir zu der Erkenntnis, dass das, was all das sieht, selber nicht gesehen werden kann. Denn sobald es gesehen werden könnte, wäre es nur ein weiteres wahrgenommenes Objekt und nicht das, was sieht.
Das, was all diese Erfahrungen macht kann selber keine Erfahrung sein, da es die Quelle oder Ursache aller Erfahrungen ist.

Wenn wir ehrlich mit uns sind, erkennen wird, dass wir keine Ahnung haben, wer oder was das sein könnte, das da in uns denkt und fühlt. Dieser Erfahrende ist sich offensichtlich seiner selbst nicht bewusst. Man kann auch sagen, dass er schläft.

Mit dieser Einsicht beginnt das Erwachen.
Alle ernstzunehmenden spirituellen Meister haben über Jahrtausende gelehrt, dass der Mensch sich in einen tiefen spirituellen Schlaf befindet und mit fest geschlossenen Augen durch die Welt geht.

Wenn das Sehende, das Selbst oder Atman, wie es in der indischen Mythologie genannt wird, erwacht, erkennst du, dass dein Ego nur ein Traum ist.
Erwachen bedeutet nicht, dass du als Ego, welches du ja auch sehen und erfahren kannst, aufwachst. Das Sehende ist nicht du so wie du dich bisher kennst. Es hat keine Ich-Qualität, weil es darin kein Gefühlsobjekt wie „ich“ oder „mein“ geben kann, denn auch die werden von ihm gesehen.
Es ist auch nicht die Errungenschaft deiner Meditation oder etwas durch deine Disziplin Erschaffenes. Es ist reines Leben, der natürliche Ausdruck des Seins und war immer schon da, egal ob du danach schaust oder nicht.
Diese Ich-freie Unpersönlichkeit des inneren Lichtes wird auch als Manjushri bezeichnet und ist nicht individuell sondern universell und kosmisch.

Wie können wir uns dieser Erkenntnis nun nähern?

Du erfährst immerfort, wie sich in dir Freude in Trauer, Angst in Zuversicht und Liebe in Hass verwandeln. Und du bist in Konflikt mit der einen Seite und begehrst die andere Seite. Du suchst das Glück und vermeidest das Unglück, ohne zu erkennen, dass beide einander bedingen und letztendlich eins sind, wie zwei Seiten einer Medaille.

Wenn wir aufhören mit den Gegensätzen zu kämpfen und unsere Meinungen, Vorlieben und Abneigungen nicht länger in die natürliche Reinheit unseres Seins zu projizieren, nähern wir uns ganz von selber im natürlichen Fluss des Lebens unserem wahren Selbst.

Dieses Sehende in jedem Menschen ist nicht Teil der materiellen Welt. Es ist transzendent und außerhalb der Welt der Dualitäten aus sich ergänzenden Gegensatzpaaren, weil es beide Pole erfahren kann und damit keiner von beiden ist.

Dieses ganze Drama spielt sich auf der Leinwand des Lebens vor deinem inneren Auge ab. Dein Selbst ist das, was sich diesen Film anschaut.
Du kannst beide Pole der Dualität erleben und so den Weg aus der Verstrickung finden.

Wenn du aber einen Teil der Polarität ablehnst, kannst du auch nur eine Seite erfahren und musst warten, bis das Rad des Lebens sich weiter dreht und die Rückseite in dein Bewusstsein aufsteigt.
Solange du eine Seite der Erfahrung bevorzugst und ihre Rückseite ablehnst, entgeht dir das größere Ganze, kannst du die Leinwand nicht sehen.
Du befindest dich in dem Zustand, den die indische Weisheitslehre Samsara nennt, angekettet an das fortwährend sich drehende Rad des Lebens.

Erst wenn durch ein tieferes Verstehen die Sinnlosigkeit deines Kampfes mit dir selber erkannt wird, du aufhörst zu greifen oder abzulehnen und dich dem urteilsfreiem Zulassen hingibst, entfällt die Notwendigkeit der zeitlichen Abfolge.
Jetzt erfährst du beide Gegensätze, beide Pole der Dualität gleichzeitig und nicht als voneinander getrennt. Du erkennst, dass sie eins sind. Freude und Trauer, Liebe und Hass, Angst und Zuversicht sind ein und dasselbe. Wenn du eines wählst, wählst du auch das andere, wenn du eines ablehnst, lehnst du immer beide ab.
Ohne Abwehr gleitest an einem Gefühlszustand in die Tiefe und siehst dessen Gegenteil als seine Wurzeln. Beide Pole sind Teil eines größeren Ganzen, das du bisher nicht sehen konntest.

Dieses Erkennen ist das Größte und Schönste was ich mir im Leben vorstellen kann, es ist der Sprung in eine völlig neue Dimension, in die Sphäre das Göttlichen.
Denn auch Leben und Tod sind nur zwei Pole etwas vollständig Unbeschreiblichem. Etwas, das über beide weit hinausgeht und in dem Leben und Tod stattfinden, ohne dass es selber davon betroffen ist.

Abgesehen von dieser gelebten Erkenntnis gibt es keine Hoffnung auf Erlösung oder Befreiung.
Wir alle werden sterben – dieser Körper, diese Form wird sich auflösen. Das Ende unseres Lebens ist unausweichlich und jeder Mensch wird irgendwann mit dieser Situation konfrontiert

Viele Menschen wählen den Weg der Verleugnung, halten sich an ihrer Alltagsroutine fest, in der Hoffnung, darin etwas Halt und Orientierung zu finden.
Andere werden innerlich stumpf und leblos und manche lösen das Problem, indem sie bereits zu Lebzeiten jeden Zweifel und damit auch jede Hoffnung in Alkohol oder Drogen abtöten.

Nur wenige entscheiden sich für Spiritualität und den Weg der Erkenntnis.
Wenn du zu den wenigen Glücklichen gehörst und wirklich an dir selber und an der Wahrheit tief in dir interessiert bist, hast du in diesem Leben die einmalige Chance, innerhalb dieser Form zum Formlosen zu erwachen.

Du kannst innerhalb deiner sterblichen Hülle den Urgrund von allem erkennen. Die Quelle, die nie geboren wurde und deshalb auch niemals sterben wird, weil sie auch Leben und Tod in sich vereint.
Diese Quelle ist in dir, so wie sie in allem ist, was dieses Universum jemals hervorgebracht hat.

Nutze diese Möglichkeit, die du mit dem unglaublichen Geschenk des Lebens erhalten hast.
Nutze die Form um das Formlose zu erkennen und lebendiger Ausdruck dieser Erkenntnis zu sein.

Erkenne und beende den Kampf in dir und deine Weisheit wird in Liebe erblühen.

Drehe dich nicht mehr mit dem Rad des Lebens in dir und du siehst, dass du nicht daran gekettet bist und es auch niemals warst.
Du warst nur einer Illusion erlegen.
Du hast einfach nur geträumt.

Du bist frei und bist es immer gewesen.

rad-des-lebens
Das Rad des Lebens

Manik, Oktober 2016

13 Gedanken zu „Was ist Spiritualität?“

  1. Hallo lieber Manik, schöner Artikel, diese beiden Sätze haben mich besonders angesprochen und sind find ich wirklich toll formuliert ;-)

    “Wenn du aber einen Teil der Polarität ablehnst, kannst du auch nur eine Seite erfahren und musst warten, bis das Rad des Lebens sich weiterdreht und die Rückseite in dein Bewusstsein erscheint.”

    “Nutze die Form um das Formlose zu erkennen und lebendiger Ausdruck dieser Erkenntnis zu sein.”

          1. Naja, ist schon von mir, aber ehrlich gesagt kam es einfach aus mir raus. Ich denke nicht viel beim Schreiben sondern schreibe einfach drauf los und korrigiere am Ende die Rechtschreibfehler. Von daher wähne ich mich auch nicht so richtig als Schöpfer

    1. Ja, das sehe ich auch so. Die Geburt ist der Eingang und der Tod der Ausgang.
      Wenn ich aber in der Innenschau alles Lebendige , alles was aufsteigt und sich zeigt, genau ergründe, kann ich auch sehen, dass es nur vor dem Hintergrund eines unbeweglichen Nichts möglich ist. Das Leben braucht den Tod zur Abgrenzung, daher ist auch hier immer beides gleichzeitig vorhanden. Leben und Tod geschehen jeden Augenblick gleichzeitig.
      Das erklärt auch, warum Menschen, die große Angst vor dem Tod haben, immer auch Angst vor dem Leben haben,
      Die Befreiung liegt darin, beides zugleich zuzulassen. Stirb jeden Tag heißt es doch, glaube ich.

    1. Ich denke, auch, dass Erleuchtung das Erblühen der Spiritualität sein könnte. Es gibt ja auch Menschen, die sich noch nie mit Spiritualität beschäftigt hatten und ohne jede Vorbereitung einfach so spontan, ein Erwachenserlebnis hatten. Aber auch die werden dann schlagartig spirituell.
      Und Erwachen hat für mich noch nichts mit Erleuchtung zu tun. Mit dem Erwachen geht die Reise erst richtig los – oder schläft auch wieder ein.
      Ich habe aber noch von keinem Fall gehört, wo jemand ohne Innenschau erleuchtet wurde.

  2. Ich denke, das folgende Gedicht passt auch hierhin :

    Stufen (Hermann Hesse)

    Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
    Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
    Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
    Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

    Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
    Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
    Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
    In andre, neue Bindungen zu geben.
    Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
    Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
    Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
    An keinem wie an einer Heimat hängen,
    Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
    Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

    Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
    Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
    Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
    Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

    Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
    Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
    Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …
    Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

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